HINTERGRUND: 'Quadratur des Kreises' - Projekt soll Engpässe im Rhein beseitigen |
22.03.2024 08:35:00 |
KARLSRUHE/MAINZ (dpa-AFX) - Was im Großen an der Untiefe
Jungferngrund im Mittelrhein passiert, wird rund 160 Kilometer
südlich in einer Halle in Karlsruhe im Kleinen simuliert. Dort, bei
der Bundesanstalt für Wasserbau (BAW), ist die Flusspassage
verkleinert nachgebaut. Das Modell soll dazu beitragen, dass das
seit Jahrzehnten geplante Mammutprojekt einer durchgehend größeren
Fahrrinnentiefe in dem Flusstal einmal bestmöglich umgesetzt wird -
bestmöglich für Schifffahrt und Natur, wie BAW-Leiter Christoph
Heinzelmann erklärt.
Offiziell heißt das Vorhaben Abladeoptimierung der Fahrrinnen am
Mittelrhein. Der Bundesverkehrswegeplan 2030 stuft es als
vordringlich ein. Es soll Engpässe auf der viel befahrenen
Wasserstraße Rhein zwischen Industriezentren im deutschen Südwesten
und Europas größtem Seehafen in Rotterdam beseitigen. Das Projekt
hat nach Meinung von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP),
der einst auch Verkehrsminister in Rheinland-Pfalz war, eine
"herausragende grenzüberschreitende Bedeutung".
Konzerne wie BASF haben schon eigene Maßnahmen ergriffen
In der Wirtschaft im Allgemeinen und der Binnenschifffahrt im
Besonderen stößt das Projekt erwartungsgemäß auf Zustimmung. "Die
Engpassbeseitigung am Rhein muss vorangetrieben werden, damit die
Unternehmen nicht mehr jährliche Zusatzkosten in Millionenhöhe
tragen müssen", sagte der Hauptgeschäftsführer der Landesvereinigung
Unternehmerverbände (LVU) Rheinland-Pfalz, Karsten Tacke, kürzlich.
Großprojekte wie die Abladeoptimierung müssen nach Ansicht der LVU
aber schneller und unbürokratischer umgesetzt werden.
Involviert ist in das Projekt auch ein sogenannter Projektbeirat mit
Vertretern der Länder Hessen und Rheinland-Pfalz. In Hessen
plädieren das Wirtschafts- und Umweltministerium dafür, das Projekt
nachträglich in das Genehmigungsbeschleunigungsgesetz des Bundes
aufzunehmen. Das soll langwierige Planungs- und
Genehmigungsverfahren schneller machen. Mit Blick auf das
Nutzen-Kosten-Verhältnis des Rheinprojekts verwiesen die hessischen
Ministerien darauf, dass allein der durch das Niedrigwasser 2018
entstandene volkswirtschaftliche Schaden bei fünf Milliarden Euro
gelegen habe.
Beim Chemiekonzern BASF mit seinem Stammsitz in Ludwigshafen am
Rhein beliefen sich die finanziellen Auswirkungen des Niedrigwassers
2018 nach Konzernangaben auf 250 Millionen Euro. Seitdem hat BASF
auf eigene Maßnahmen ergriffen. Es sei mit der
Bundesanstalt für Gewässerkunde ein digitales Frühwarnsystem für
Niedrigwasser entstanden, die Zahl eingesetzter für Niedrigwasser
geeigneter Schiffe sei mehr als verdoppelt worden und es werde
verstärkt auf alternative Verkehrsträger wie die Bahn gesetzt.
Vorhaben ist bei Naturschützern umstritten
Dennoch werden laut BASF weiter 40 Prozent Transportvolumens per
Schiff abgewickelt. Durchschnittlich würden pro Tag 15 Binnenschiffe
abgefertigt. Mit Blick auf die sogenannte Abladeoptimierung
Mittelrhein teilte BASF mit: "Leider verzögert sich die Umsetzung
dieses enorm wichtigen Projekts durch ein langwieriges
Genehmigungsverfahren und Personalmangel in den zuständigen Behörden
signifikant."
Verkehrsminister Wissing verweist auf die von ihm eingesetzte
sogenannte Beschleunigungskommission. Auch dank ihr sei eine breit
angelegte Stellenoffensive zur Verstärkung des Projektteams mit
Ingenieuren und Technikern erfolgt. Die Prozesse innerhalb des
Projekts seien optimiert worden, "um den hochkomplexen Fragen im
Spannungsfeld zwischen Ökologie und Ökonomie bestmöglich gerecht zu
werden".
Bei Naturschützern ist das Vorhaben umstritten. Der Bund für Umwelt
und Naturschutz (BUND) befürchtet eine erhebliche Bedrohung vieler
wichtiger Lebensräume insbesondere an den Ufern. "Wir plädieren
dafür, die geplanten Finanzmittel für die Modernisierung der
Schiffsflotte einzusetzen", sagte Eckhard Genßmann, Vorsitzender der
Kreisgruppe Mainz-Bingen.
Forschungsprojekt in Karlsruhe lief 2015 an
In einem Positionspapier des Naturschutzbundes (NABU) heißt es, eine
größere Abladetiefe fördere "übergroße Schiffseinheiten auf Kosten
der kleineren, besser flussangepassten Schiffe". Die Entwicklung des
Rheins im Klimawandel werde unzureichend berücksichtigt.
"Insbesondere bei Niedrigwasserabflüssen wird das Leben im Rhein
noch stärker auf die Fahrrinne beschränkt", heißt es da. Die als
Lebensräume wichtigen Zonen mit flachem Wasser sowie Nebenläufe
würden verstärkt abgekoppelt oder gingen ganz verloren.
Auch damit so etwas nicht passiert, hat das Wasserstraßen- und
Schifffahrtsamt Rhein die BAW vor Jahren damit beauftragt, mit
Forschung Grundlagen für eine rechtssichere und die Interessen
ausgleichende Planung zu legen. Ende 2015 lief das Rhein-Projekt bei
der BAW an, wie Andreas Schmidt, Leiter der Abteilung Wasserbau
Binnenbereich, erklärt. Mittlerweile arbeiten in der BAW rund zehn
Ingenieurinnen und Ingenieure anteilig an diesem Projekt.
Grob gesagt geht es um den Rheinabschnitt von Budenheim bei Mainz im
Süden bis St. Goar im Norden. Auf dem sind laut Wasserstraßen- und
Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) pro Jahr rund 50 000
Güterschiffe (Stand: 2021) unterwegs, sie transportieren fast 60
Millionen Tonnen Ladung. Prognosen sagen laut WSV für die kommenden
Jahre einen Anstieg auf mehr als 75 Millionen Tonnen voraus.
Binnenschifffahrts-Verband spricht von "echtem Nadelöhr"
Allerdings beträgt dort die durchgängig garantierte Fahrrinnentiefe
nur 1,90 Meter unter dem Gleichwertigen Wasserstand. Das ist ein
Niedrigwasserstand, der lediglich an rund 20 Tagen pro Jahr erreicht
oder unterschritten wird. Stromauf- und -abwärts sind es 2,10 Meter,
also 20 Zentimeter mehr. Das klingt wenig, ist aber bares Geld wert.
Zusätzliche 20 Zentimeter an Wassertiefe ließen bis zu 200 Tonnen
mehr Fracht pro Schiff zu, sagt Thorsten Hüsener vom Projektteam
Mittelrhein der BAW.
Der Bundesverband der Deutschen Binnenschifffahrt mit Sitz in
Duisburg bezeichnet die limitierte Fahrrinnentiefe im Mittelrhein
als "echtes Nadelöhr". Wenn die Abladeoptimierung umgesetzt werde,
würden Schiffstransporte auch bei Niedrigwasser besser plan- und
durchführbar. "Dies ist wichtig, da die rohstoffintensiven
Industriestandorte auf die verlässliche Belieferung durch die
Binnenschifffahrt angewiesen sind."
Schuld an der geringeren Fahrinnentiefe im Mittelrhein sind
zahlreiche Untiefen. Die sechs neuralgischsten fokussiert das
Projekt der Abladeoptimierung. Es sind der Jungferngrund, der in
Karlsruhe nachgebaut wurde, der Geisenrücken, das Lorcher und das
Bacharacher Werth im felsigen, engen Tal nördlich von Bingen sowie
das Kemptener Fahrwasser und eine Stelle bei Oestrich-Winkel im von
Sand und Kies geprägten Rheinabschnitt im Rheingau.
Projektleiter: Es gibt nur individuelle Lösungen
Mit dem Großprojekt Abladeoptimierung Mittelrhein soll die
Fahrrinnentiefe auch hier auf durchgängig 2,10 Meter gebracht werden
- durch möglichst punktuelle und umweltschonende Eingriffe, die
gleichzeitig das Hochwasserschutz-Niveau nicht verschlechtern
dürfen, wie Sven Wurms, Leiter des Projekts bei der BAW erklärt. "Es
gibt nur sehr individuelle Lösungen", sagt Hüsener. "Kein
Flussabschnitt gleicht dem anderen."
In Computermodellen und mit dem Rhein-Modell wird bei der BAW
geschaut, wo Sedimente von der Strömung in die Fahrrinne getragen
und zum Problem werden können. Dann wird geprüft, wie zum Beispiel
eine höhere Strömungsgeschwindigkeit und damit eine geringere
Ablagerung von Sand und Kies erreicht oder der Transport im Wasser
gelenkt werden kann.
Denkbar sind die Errichtung von Buhnen, quer in den Fluss
hineinragende Bauwerke, längs zum Fluss verlaufende Bauwerke,
Grundschwellen auf dem Flussgrund oder die Verfüllung von Kolken,
Vertiefungen im Flussgrund. Im steinigen Rheinabschnitt wird auch
punktuelles Abfräsen von Fels auf dem Grund des Stroms nötig sein,
bei Beachtung der Eigenschaften der jeweiligen Gesteinsart, von
weichem Tonschiefer bis zu harter Grauwacke.
Jungferngrund als besondere Herausforderung
Besonders knifflig ist die Lage am Jungferngrund bei Oberwesel, wie
Projektleiter Wurms sagt. Hier macht der Rhein eine 90-Grad-Kurve,
Schiffe brauchen für ihre Manöver eine recht breite Fahrrinne, die
Strömungsverhältnisse längs und quer zum Flussverlauf sind komplex,
auch wegen der gleichnamigen Kiesbank und einem Felseiland namens
Tauber Werth.
Die Kiesbank als wichtiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen darf
bei Veränderungen keinen Schaden nehmen. Es muss beachtet werden,
dass der Nebenarm zwischen der Kiesbank und dem rechten Rheinufer
noch durchströmt wird, nicht verlandet, wie Wurms erklärt. Alle
möglichen Varianten werden dafür an dem Rheinmodell im Maßstab 1:60
in der Länge und 1:50 in der Höhe nachgespielt.
Für das Modell wurde der Flussgrund mit all seinen Felsspalten und
-rippen aus 170 Betonkacheln exakt nachgebaut, bis das Modell voll
betriebsbereit war, verging ein Jahr. Statt Sediment wird hier
Kunststoffgranulat von der Modellströmung transportiert, in
unterschiedlicher Größe und mit unterschiedlicher Materialdichte in
Rot, Weiß und Gelb. Denkbare Wasserbauten werden maßstabsgetreu
eingebaut und getestet.
Bundesanstalt soll auch evaluieren
Am besten schneidet nach jetzigen Erkenntnissen die Variante mit
individuell geformten Grundschwellen ab, wie Hüsener sagt. Mit ihr
gelinge es vergleichsweise gut, das Gros der Sedimente im Wasser
weiterzutragen bis in den Abschnitt nahe der weltberühmten Loreley
mit Tiefen von bis zu 19 Metern und die Auswirkungen auf die Umwelt
gering zu halten.
Die Suche nach solchen viele Faktoren berücksichtigenden Lösungen
sei fast schon "die Quadratur des Kreises", sagt BAW-Chef
Heinzelmann. Das lässt auch verstehen, warum das Projekt noch viele
Jahre dauern dürfte - nicht zuletzt auch wegen der noch anstehenden
und zeitraubenden Planfeststellungsverfahren. Das Rheinmodell in
Karlsruhe dürfte noch lange stehen, die BAW soll auch nach den
Bauarbeiten die ergriffenen Maßnahmen evaluieren./chs/DP/zb
--- Von Christian Schultz, dpa ---
ISIN DE000BASF111
AXC0078 2024-03-22/08:35
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