ROUNDUP 3: Spektakulärer Gefangenenaustausch zwischen Moskau und Westen |
01.08.2024 22:31:00 |
(Aktualisierung: Aussagen Scholz und Empfang Putin)
ANKARA/BERLIN/MOSKAU/WASHINGTON (dpa-AFX) - Russland, Belarus und
mehrere westliche Länder haben in einer beispiellosen Aktion unter
Beteiligung des türkischen Geheimdienstes MIT insgesamt 26 Gefangene
ausgetauscht. Im Gegenzug für die Freilassung politischer Gefangener
und Kremlkritiker ließen Deutschland, die USA und Partnerländer
einen verurteilten Mörder und unter Spionageverdacht stehende
Akteure aus Russland gehen.
So überstellte Deutschland bei der Übergabe auf dem Flughafen der
türkischen Hauptstadt Ankara den sogenannten Tiergartenmörder.
Belarus ließ den zunächst zum Tode verurteilten und später
begnadigten Deutschen Rico K. frei. Auch der Deutsche Patrick S.,
der wegen Cannabis-Gummibärchen im Gepäck am Flughafen in Sankt
Petersburg festgenommen worden war, wurde an Deutschland übergeben.
Russland ließ außerdem den wegen Spionage verurteilten
Korrespondenten des "Wall Street Journal", Evan Gershkovich und den
ehemaligen US-Soldaten Paul Whelan frei.
Scholz unterbricht Urlaub - Putin empfängt Rückkehrer
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterbrach seinen Urlaub und will
sich noch am späten Donnerstagabend am Flughafen Köln/Bonn mit
Freigelassenen treffen. Zuvor sagte er: "Niemand hat sich diese
Entscheidung einfach gemacht, einen zu lebenslanger Freiheitsstrafe
verurteilten Mörder nur nach wenigen Jahren der Haft abzuschieben."
Die schwierige Entscheidung sei von der Koalition nach sorgfältiger
Beratung und Abwägung gemeinsam getroffen worden.
Scholz sprach von einer Schutzverpflichtung gegenüber deutschen
Staatsbürgern und Solidarität mit den USA. Möglich war der Deal mit
Russland nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Hebestreit
Angaben nur, "indem russische Staatsangehörige mit
geheimdienstlichem Hintergrund, die in Europa in Haft saßen",
überstellt wurden.
Russlands Präsident Wladimir Putin empfing seinerseits vom Westen
freigelassene Russen am Donnerstagabend in Moskau persönlich. Der
Kremlchef umarmte mindestens einen der Männer noch auf dem Rollfeld,
wo die Präsidentengarde Spalier stand, wie vom Kreml veröffentlichte
Fernsehbilder zeigten. Insgesamt wurden zehn Personen an Russland
übergeben, darunter nach türkischen Angaben auch zwei Kinder - das
Alter wurde nicht genannt. Auf der anderen Seite kamen fünf
Deutsche, drei US-Bürger, eine Person mit US-Arbeits- und
Aufenthaltserlaubnis (Green Card) und sieben russische Staatsbürger
frei, darunter prominente Kremlgegner wie Wladimir Kara-Mursa und
Ilja Jaschin.
Biden dankt Scholz
US-Präsident Joe Biden trat in Washington gemeinsam mit Angehörigen
der aus russischer Haft freigelassenen Amerikaner vor die Kameras:
"Ich bin vor allem dem Bundeskanzler zu großem Dank verpflichtet."
Angesichts der Forderungen aus Russland habe er "erhebliche
Zugeständnisse" von Deutschland erbitten müssen. Mehrere Partner
hätten "mutige" Entscheidungen getroffen, indem sie Gefangene
freigelassen hätten, die in ihren Ländern zu Recht festgehalten
worden seien - um am Ende Amerikaner nach Hause zu bringen.
Geheimdienst spricht von historischer Operation
Die 26 Gefangenen waren den MIT-Angaben zufolge zuvor aus Russland,
den USA, Deutschland, Polen, Norwegen und Slowenien wo sie jeweils
inhaftiert waren nach Ankara geflogen worden. Alle seien zunächst an
sichere Orte gebracht und medizinisch untersucht worden, Dokumente
seien unterzeichnet worden. Schließlich wurden demnach zehn Personen
nach Russland geflogen. 13 Betroffene wurden nach Deutschland und
drei in die USA ausgeflogen, hieß es weiter. Der Geheimdienst sprach
von einem historischen Austausch und dem umfangreichsten zwischen
Russland, den USA und Deutschland in der jüngsten Vergangenheit.
Unter den deutschen Staatsbürgern, die frei kamen, ist neben Rico K.
und Patrick S. auch der 19-jährige Deutsch-Russe Kevin L. und der
Politologe Demuri W., die beide wegen Landesverrats verurteilt
worden waren, und der wegen Landesverrats angeklagte Aktivist German
M.
Informationen über Austausch hatten sich immer mehr verdichtet
Seit Tagen hatten sich Spekulation über einen großen
Gefangenenaustausch gemehrt. So hatte es Berichte über die Verlegung
zahlreicher politischer Gefangener in Russland an unbekannte Orte
gegeben, darunter auch die früheren Leiterinnen der Regionalstäbe
des in Haft gestorbenen Kremlgegners Alexej Nawalny. Seit
Mittwochabend verdichteten sich die Informationen über einen großen
internationalen Deal schließlich immer mehr.
Kremlchef Wladimir Putin, der in der Kritik steht, politische
Gefangene als Geiseln zu nutzen, um Russen aus westlichen
Gefängnissen freizupressen, hatte zuletzt wiederholt die
Bereitschaft zu einem Austausch erklärt. Putin hatte besonders
großes Interesse am in Deutschland inhaftierten "Tiergartenmörder".
Verschiedene Ereignisse deuteten zuletzt auf Bewegung in der Sache
hin: Gershkovich wurde erst vor knapp zwei Wochen nach langer
Untersuchungshaft in Russland in einem kurzen Prozess wegen
angeblicher Spionage zu 16 Jahren Haft verurteilt. Am selben Tag
verurteilte ein russisches Gericht die US-amerikanische Journalistin
Alsu Kurmasheva, die nach US-Angaben ebenfalls freikam, zu
sechseinhalb Jahren Strafkolonie wegen angeblicher Falschmeldungen
über die Armee.
Beobachter in Moskau deuteten die schnelle Verurteilung Gershkovichs
als möglichen Hinweis darauf, dass es bald eine Einigung über einen
Gefangenenaustausch geben könnte. In der Regel muss nach russischer
Justizpraxis ein Urteil vorliegen, damit es zu einem Austausch
kommt.
Todesurteil gegen Deutschen gerade erst aufgehoben
Ebenfalls am Tag der Verurteilung der beiden US-Journalisten wurde
öffentlich, dass in Russlands verbündetem Nachbarland Belarus der
Deutsche Rico K. zum Tode verurteilt wurde. Vor wenigen Tagen hob
Machthaber Alexander Lukaschenko das Urteil auf, nachdem der
Deutsche im belarussischen Staatsfernsehen in einem Video vorgeführt
worden war, in dem er sich schuldig bekannte und um Gnade bat. Auch
hier hatte es Spekulationen gegeben, dass hinter den Kulissen
möglicherweise ein Austausch gegen den "Tiergartenmörder" Wadim K.
ausgehandelt werden könnte.
"Tiergartenmörder" saß zuletzt in Offenburg ein
Wadim K. hatte 2019 in der Berliner Parkanlage Kleiner Tiergarten
einen Georgier ermordet. Das Berliner Kammergericht hatte ihn 2021
zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der russische
Präsident Wladimir Putin nahm den Mörder öffentlich in Schutz, weil
er aus russischer Sicht einen Staatsfeind beseitigt hatte. Russische
Behörden hatten diesen als tschetschenischen Terroristen eingestuft.
Immer wieder war spekuliert worden, dass Putin K. im Zuge eines
Gefangenenaustauschs freibekommen will.
Wadim K., der aus Sicherheitsgründen mehrfach von einer Haftanstalt
zur nächsten verlegt worden war, saß nach dpa-Informationen zuletzt
im baden-württembergischen Offenburg ein. Die Entscheidung zu seiner
Freilassung traf nicht der in solchen Fällen zuständige
Generalbundesanwalt Jens Rommel, sondern das
Bundesjustizministerium. Eine Sprecherin teilte auf Anfrage mit, der
Generalbundesanwalt sei zwar grundsätzlich zuständig für die
Aussetzung der Strafvollstreckung. Das Ministerium habe ihn im Fall
von Wadim K. am vergangenen Montag jedoch schriftlich angewiesen,
die Vollstreckung auszusetzen, um den Gefangenenaustausch zu
ermöglichen./jr/DP/he
AXC0316 2024-08-01/22:31
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Autor: - dpa-AFX
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