Krankenversicherung ins Grundgesetz? |
06.10.2024 12:05:00 |
BERLIN (dpa-AFX) - Soll die Krankenversicherung ins Grundgesetz? Das
fordert ein langjähriger Experte für das deutsche Sozialsystem, der
Bundesbeauftragte für die Sozialwahlen, Peter Weiß. Auch die
Arbeitslosen-, die Renten- und die Unfallversicherung will Weiß in
der Verfassung verankern - genauer gesagt: die gesamte
Sozialversicherung mit ihrer Selbstverwaltung. Zugleich fordert Weiß
mehr Demokratie - und zwar durch mehr Mitsprache für die
Versicherten bei Leistungen und Beitragsgeld.
"Einfach so weiterzumachen, wie bisher - das geht nicht", sagte Weiß
der Deutschen Presse-Agentur. Sonst habe die Sozialversicherung in
ihrer heutigen Form wohl kaum eine Zukunft, heißt es auch in einem
nun veröffentlichten Abschlussbericht zu den Sozialwahlen 2023. Die
Idee: In der Verfassung festzuschreiben, dass die Sozialversicherung
"unter maßgeblicher Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu organisieren ist", wie Weiß sagt.
22 Millionen konnten online wählen
Das mag für viele weit von der eigenen Lebenswirklichkeit
erscheinen. Kein Wunder: Viele Menschen in Deutschland kennen die
Sozialwahlen nicht - damit geht einher, dass sie "die soziale
Selbstverwaltung nicht zur Kenntnis nehmen beziehungsweise nicht
wertschätzen", wie Weiß und seine Stellvertreterin Doris Barnett in
Empfehlungen an Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) schreiben.
Bei den jüngsten Sozialwahlen waren rund 52 Millionen Menschen 2023
wahlberechtigt. Nur rund jede und jeder Fünfte machte sich ans
Ankreuzen. Im Vergleich zu den vorherigen Sozialwahlen 2017 sank die
Beteiligung um fast acht Prozentpunkte. Bei den Sozialwahlen werden
die Mitglieder der Verwaltungsräte von gesetzlichen Krankenkassen
sowie der Vertreterversammlungen der Unfall- und
Rentenversicherungen gewählt. Erstmals war bei großen Krankenkassen
- insgesamt bei 22 Millionen Wahlberechtigten - eine
Online-Stimmabgabe möglich. Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl
2021 lag die Wahlbeteiligung bei knapp 77 Prozent.
Was unterscheiden Sozial- und Bundestagswahl?
Wo ist der maßgebliche Hauptunterschied? "Die Wahlbeteiligung ist
immer dann groß", stellt der Sozialwahl-Abschlussbericht nüchtern
fest, "wenn es "um etwas geht'" wenn Weichenstellungen anstehen
(...), wenn der Wahlkampf geeignet ist, Emotionen auszulösen".
Das ist bei der Sozialversicherung nicht wirklich der Fall. Dabei
haben die Krankenkassen für quasi jede und jeden Einzelnen
existenzielle Bedeutung - und für die Gesellschaft insgesamt als
"Garant des sozialen Friedens", so der Abschlussbericht. Und es geht
um unvorstellbare Summen. So wurden 2023 in Deutschland rund 1250
Milliarden Euro für soziale Leistungen ausgegeben, davon mehr als
840 Milliarden aus Sozialbeiträgen von Beschäftigten und
Arbeitgebern.
Es geht um Geld - und was man dafür bekommt
Richtige Wahlkämpfe gibt es bei Sozialwahlen trotzdem nicht. Die
dort gewählten Gremien haben ziemlich wenig zu sagen. Der Bericht
stellt fest, "dass der Bundesgesetzgeber die Angelegenheiten der
Mitglieder der Träger der Sozialversicherung bis in nahezu jedes
Detail durch Bundesgesetz geregelt hat". Für Mitsprache bleibe kaum
Spielraum.
Hätten die Angelegenheiten der Sozialversicherung das Zeug für
"interessante Wahlkämpfe"? Weiß und die Sozialwahl-Verantwortlichen
meinen: ja. Ihr Bericht benennt, worum es gehen könnte: um Geld und
was man dafür bekommt. "Habe ich die Wahl zwischen geringeren
Leistungen, Selbstbehalten, begrenzter Auswahl an
Leistungserbringern usw. bei gleichzeitiger Verringerung meiner
Beitragslast?" Doch über all dies hat in aller Regel schon der
Gesetzgeber entschieden.
"Wollen nicht mehr Staat, sondern weniger"
Dabei kennen sich die Kandidatinnen und Kandidaten bei den
Sozialwahlen in der Regel in der Materie aus. Sie kommen meist von
Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen. Hinter der Sozialwahl
steckt der Gedanke, dass diejenigen, die einzahlen, auch
mitbestimmen sollen. Die gewählten Gremien beschließen unter anderem
die Haushalte ihrer Versicherungen.
Selbstverwaltung in den bestehenden Anstalten oder Körperschaften
des öffentlichen Rechts einschlafen zu lassen, "wäre töricht", sagt
Weiß, der als Arbeitsmarktexperte seiner Fraktion selbst
weitreichende Sozialgesetze mitverhandelt hatte. "Wir wollen ja
nicht mehr Staat, sondern weniger - und mehr Bürgerbeteiligung."
Soll es gemacht werden wie in Weimar?
Für eine Verankerung in der Verfassung gibt es übrigens ein
Beispiel: die Weimarer Reichsverfassung. Artikel 161 lautete: "Zur
Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der
Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von
Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein
Versicherungswesen unter maßgeblicher Mitwirkung der
Versicherten."/bw/DP/ngu
AXC0020 2024-10-06/12:05
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Autor: - dpa-AFX
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